[RPG-Thread] Die Stunde der Krähen

"Aye, sie haben zahlreiche Greueltaten verbrochen", bestätigte Valimar mit ernster Miene, "Sie begnügen sich nicht damit, ihre Felder zu vernachlässigen und meine Kontore in Brand zu setzen, sie ziehen marodierend durch das Land und töten jeden, der sich ihnen in den Weg stellt." Er merkte, wie seine Finger sich um den Griff seines Weinkelchs verkrampft hatten und nahm um sich zu beruhigen einen tiefen Schluck.
"Es wäre meinen Spähern ein leichtes, diesen Haufen ausfindig zu machen", setzte er noch einmal mit seinem ursprünglichen Vorschlag an, "Fünfzig gute Mann auf guten Pferden und wir könnten sie in alle Himmelsrichtungen auseinander jagen. Und ihr könntet den Tod der ermordeten Bauern rächen..."


Fürst Oswin und Ircia hatten den Hof verlassen, waren ausgeritten und wie üblich schien dieser ohne die Anwesenheit der fürstlichen Familie und der damit verbundenden Geschäftigkeit aller anderen Mitglieder des Hofes wie ausgestorben zu sein. Es hatte fast etwas gespenstisches an sich. Im Lauf des Vormittags waren ausgefranste, weiße Wölkchen aufgezogen, die sich zu verdichten drohten, doch noch war es mild und so hatte Jolanda sich dafür entschieden, ein wenig in den ausgedehnten Gartenanlagen des Fürsten zu lustwandeln. Und vielleicht hatte sie auch tatsächlich die Hoffnung gehegt, aber sie dann wieder verdrängt, doch in jedem Fall war es eine Überraschung für sie, als sie beim Pavillon am Weiher auf Fafnir stieß. Eine freudige Überraschung, gleichwohl.

Grim fuhr sich übers Gesicht. Es kam nicht häufig vor, dass er sich unentschlossen fühlte, doch wenn ihn diese Regung übermante, traf sie ihn umso schwerer. Er hatte erkannt, das dies mehr als nur ein einfach Aufstand war. Und dennoch zögerte er. Er könnte sich ihnen entgegenstellen, doch der Gedanke missfiel ihm. Gegen bewaffnete Soldaten zu kämpfen störte ihn nicht, aber gegen sein eigenes Volk? Das widerstrebte ihm.
Aber das war nicht das einzige was ihn beunruhigte. Irgendetwas an dieser Situation gefiel ihm nicht. Sein Instinkt als Krieger schrie ihm zu, dass dies eine Falle war. Dass jemand ein Spiel mit ihnen trieb. Und nach dem, was in der Senke im Wald passiert war, wollte er sich ganz bestimmt nicht erneut an der Nase herum führen lassen.
"Wir müssen auf jeden Fall feststellen, wo sich ihre Hauptstreitmacht im Moment befindet", stimmte er zu. "Doch wir müssen vorsichtig vorgehen. Angesichts der Lage können wir nicht so schnell mit Verstärkung rechnen. Sollten wir in einen Hinterhalt geraten und zu viele Männer verlieren, hätten die Aufständischen freie Hand. Wir dürfen das keineswegs zulassen."
Er deutete an einige Stellen der Karte.
"Postiert Späher an diesen Aussichtsposten und beobachtet die Truppenbewegungen der Bauern. Sobald sie sich einer Siedlung oder einem Gehöft nähern, das noch in Treue zu uns steht, werden wir unsere Leute in Position bringen, um uns ihnen entgegenzustellen. Wir haben genug Leute verloren, die Übrigen müssen umso stärker wissen, dass sie noch unter unserem Schutz stehen. In der Zwischenzeit sollten wir herausfinden, wer hinter all dem steckt und ob sie Gefangene haben."
Er faltete die Hände ineinander.
"Ich würde vorschlagen, dass wir jemanden schicken, um die Aufständischen zu infiltrieren."

In der Tat, das gemeine Volk redete einiges in der Gaststube, in der Ircia zu speisen gedachte. Ein paar zeigten Interesse an dem Bauprojekt, doch diese Leute waren in der Unterzahl. Die Bauernaufstände waren in aller Munde. So nah an Hartholm wagte kaum jemand sich für die Bauern auszusprechen, doch nur, weil die Dinge unausgesprochen waren, hieß das nicht, das keine Zweifel im Volk waren. Und es gab Leute, die diese zu gerne säten. Was auch nicht schwer war, immerhin war Valimar Norell alles andere als ein fähiger Herrscher. Schon vor Ausbruch der Unruhen hatte man so einige Spottlieder auf den zitternden Zauderer gesungen.
Doch auch der neuerliche Besuch der Melior war in aller Munde. Das Gerücht, dass es zu einem Vertrag kommen könnte. Zu einer Heirat. Doch diese Stimmen verstummten, als Ircia den Gasthof betrat. In der Tat ihre Erscheinen blieb nicht unbeobachtet. Doch waren nicht nur Bauern unter Dörfler unter den Gästen der Taverne.

In sein Buch vertieft, bemerkte Fafnir Jolanda nicht gleich. Erst als er seine Bewegung im Augenwinkel wahrnahm, hob er den Blick und schaute sie an.
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht und er legte das Buch nieder.
"Jolanda! Geniesst du ebenfalls den kümmerlichen Rest des schönen Wetters? Es soll Regen aufziehen", begrüsste er sie und erhob sich.


Ircia wusste nicht so genau, ob man sie als die Tochters des Fürsten erkannt hatte. Doch ihre beiden Begleiter machten deutlich, dass sie es Wert war, beschützt zu werden und für einen Moment war sie sich nicht mehr so sicher, ob sie wirklich hier essen wollte.
Doch der eifrige Wirt - ein kleiner, schlanker Mann mit üppigem Schnauzbart - war bereits da. Er hatte am Wappen erkannt, dass die junge Dame in irgendeiner Verbindung zum Fürsten stand und beeilte sich, sie an einen Tisch zu geleiten und ihr vom besten Wein zu bringen.

"Solange es noch nicht grau und kalt ist will ich nicht dran glauben, dass es regnen wird", antwortete Jolanda, jedoch mit soviel Anmut und Bescheidenheit in der Stimme, dass man nicht hätte meinen können, dass sie eben Widerworte gegeben hatte, "Und ich wollte nicht allein in der Burg bleiben. Wenn alle fort sind, dann ist es so grau und kalt in diesen Gemäuern." Sie lächelte scheu. "Sag, darf ich mich zu dir setzen?"


Wieder sprach der Fürstensohn sich gegen Valimars Vorschlag aus. Für einen Moment entglitten ihm die Gesichtszüge und er schaute recht verkniffen drein. Er konnte Grim hier beim besten Willen nicht zustimmen. Der Plan war viel zu riskant. Ohne zusätzliche Truppen den Bauern entgegen zu treten war mehr als waghalsig. Mit dem, was ihnen zur Verfügung stand, brauchten sie das Überraschungsmoment. Einmal mit der Kavallerie unter die Bauern fahren wenn sie an ihren Feuern saßen, wenn sie es nicht erwarteten. Nicht, wenn sie voll bewaffnet auf Kriegszug waren. Und warum nur war Grim so passiv? Ein Fürst durfte sich doch nicht von diesem Pöbel das Heft aus der Hand nehmen lassen. Es galt zu handeln! Nun, wenigstens Grims letzter Vorschlag ging in diese Richtung.
"Habt ihr denn jemanden, dem ihr diese Aufgabe zutraut?", fragte Valimar also nach, "Meine Männer sind, fürchte ich, wenig geeignet für derart... subtile Aufgaben. Sie sind alle tüchtig und zuverlässig, aber für diese Art Aufgabe braucht es eine spezielle Art Mensch..."

"Ich denke, ich wüsste da einen Kandidaten", überlegte der Fürstensohn. Es missfiel ihm zwar, Alister darum zu bitten, doch schien ihm das im Moment die einzige Chance. Er und seine Leute waren zu bekannt um hier durchzukommen. Er brauchte ein unbeschriebenes Blatt. Jemanden, den die Leute nicht kannten. Hoffentlich stimmte er zu.
Grim hatte durchaus bemerkt, wie dem Grafen einen Moment die Gesichtszüge entgleist waren und an sich verübelte er es ihm kaum. Nach all dem was passiert war, war die Anspannung durchaus verständlich. Doch durften sie sich jetzt nicht beirren lassen.
"Ich verstehe Eure Zweifel, Graf", gestande er Norell zu. "Doch habe ich den Eindruck, dass wir es hier mit mehr als nur ein paar aufgebrachten Schlägern zu tun haben. Den ein oder anderen Bauernaufstand habe ich durchaus schon erlebt, doch ich habe selten erlebt, dass sie derart aggressiv und gleichzeitig koordiniert vorgehen."
Er deutete auf einige Punkte auf der Karte.
"Anstatt wild von einem Hof zum nächsten zu ziehen, scheinen sie systematisch eine Siedlung nach der anderen angegriffen zu haben, die für uns von Bedeutung ist, oder loyalen Bürgern gehört. Ich sagte zwar, dass wir uns später um den Anschlag kümmern sollten, aber", er sah ihn bedeutungsschwer an, "es ist nicht unmöglich, dass die beiden Ereignisse irgendwie zusammenhängen."

Am Tisch zu Ircias nächsten hatte ein müde dreinblickender Wandersmann Platz genommen. Er war in eine einfaches Reisegewand gehüllt, sein Gesicht war von einem dichten, kastanienfarbenen Vollbart eingehüllt. Er hatte der Fürstentochter den Rücken zugedreht, doch ein aufmerksamer Beobachter hätte das Blitzen in seinen Augen bemerkt.
Jedoch warf er der Dame keinen weiteren Blick zu, sondern begann wieder, vernehmbar mit seinen Tischpartnern zu sprechen.
"Um es kurz zu machen, im Westen konnte ich einfach nicht mehr leben. Erst diese ganzen Aufrührer, dann führt der Skallien auf einmal keine Fische mehr. Kein Getreide, keine Fische, wovon soll man sich hier eigentlich noch ernähren?"
Er schüttelte traurig den Kopf.
"Wenn das so weitergeht, dann geht es mit diesem Land den Bach runter."

Er lächelte sie an.
"Nun, natürlich dürft Ihr Euch zu mir gesellen", meinte er. "Aber wenn Ihr wollt, können wir auch einen Spaziergang durch den Garten machen. Wie Ihr wollt…"

Während sie auf das Essen wartete, lauschte Ircia so gut das in dem nun wieder angeschwollenen Stimmengewirr ging.
Einige Leute sprachen von den Brotpreisen, andere von der Feldarbeit, wieder andere von den Aufständen …
Schliesslich ergriff auf einmal einer ihrer Begleiter das Wort. Er wandte sich zu dem Mann zu, der soeben vom Skallien gesprochen hatte.
"Warum sollten im Fluss keine Fische mehr haben? Im Skallien hatte es immer Fisch."

Wieder zögerte Valimar. Warum, das war ihm selbst nicht ganz klar. Sich zu sträuben brachte ja nichts. Seine Stellung erlaubte es Grim, ihm zu befehlen was immer er wollte. Es war mehr... der Widerwille, sich diese Tatsache einzugestehen. Es kostete ihn innere Anstrengung, sich zu beugen.
"Wie ihr wünscht, Herr", brachte er schließlich dennoch über die Lippen und seiner Stimme war dabei der Widerwille nicht mehr anzumerken, "Sendet euren Mann zu den Bauern und ich werde tun, wie mir geheißen, und meinen Leuten auftragen, die Bewegungen des Pöbels aus der Ferne zu beobachten und die Gehöfte in ihrem Weg zu sichern."


Dieses Angebot nahm Jolanda nur zu gerne an. Sie hätte es ebenso genoßen, einfach an Fafnirs Seite zu sitzen, auch falls er sich weiter mit seinem Buch beschäftigt hätte, aber wenn er schon anbot, sich ihrer anzunehmen, wie hätte sie da nein sagen können? Als der junge Mann sich erhob gab sie sich einen Ruck und hakte sich bei ihm unter, sodass sie gemeinsam durch den Garten schlendern konnten. Das war nicht unziemlich, schließlich waren sie einander wohl bekannt und gewissermaßen Familie. Doch es erlaubte ihr, sich nahe an Fafnirs Seite zu halten. Näher, als ihr das sonst irgendwie möglich gewesen wäre. Jolanda lächelte glücklich.

Grim warf dem Grafen einen bedächtigen Blick zu. Dass Norell seinen Optimismus bezüglich der Bauern nicht teilte, war ihm von Anfang an klar gewesen. Er hoffte bloß, es würde bei trotzigen Blicken bleiben. Und dass der Wein, an den er sich klammerte ihn wirklich zu beruhigen vermochte.
"Wir müssen schnell reagieren, wenn die Bauern tatsächlich losmarschieren", beschloss Grim abschließend. "Sammelt alle um Euch, die in der Lage sind zu reiten und exerziert mit ihnen die wichtigsten Manöver durch."
Mit diesen Worten beendeten sie ihre Sitzung und Grim machte sich auf um nach Alister zu suchen. Wenn jemand noch herausfinden konnte, was mit den Bauern los war, dann er. Es war eine schwache Hoffnung, aber alles, was zwischen ihnen und einem Blutbad im Süden stand.

Überrascht drehte sich der Mann um und betrachtete den Begleiter der Dame eingehend.
"Dieses Jahr offenbar nicht", kam die resignierte Antwort. "Es war noch nie leicht, sich am Skallien seinen Lebensunterhalt mit der Fischerei zu verdienen. Das kommt davon, wenn man sich seine Lebensquelle mit den Ornenbergern teilt."
Er grunzte missmutig und zuckte mit den Schultern.
"Aber dieses Jahr hatten die Fische offenbar keine Lust. Kaum einer ist mir ins Netz gegangen. Wahrscheinlich haben sie selber Angst vor den Aufständen. Aber ich konnte nicht länger warten muss ja was verdienen, wenn ich durch den Winter kommen will. Kann nur hoffen, dass sie hier im Osten noch irgendwo einen Arbeiter brauchen. Hab ja gehört, der Neffe des Fürsten will neuerdings irgendein Bauprojekt führen."
Der Mann machte eine wegwerfende Handbewegung.
"Als wenn wir keine dringenderen Probleme hätten als irgendwelche Schmuckbauten. Aber was soll ich sagen, mit dem Land geht's bergab. Man kann sich nicht mehr ernähren, die Bauern ziehen plündernd durchs Land und jetzt machen sie nicht mal mehr vorm Sohn des Fürsten Halt. Schlimme Zeiten in denen wir leben, sag ich Euch, schlimme Zeiten..."

Er klemmte sich das Buch unter den freien Arm und sogleich merkte er, dass sein Herz wieder etwas lauter zu pochen begann, als er Jolanda an seiner Seite spürte.
"Die Herbststürme nehmen zu. Der Winter wird nicht mehr lange auf sich warten lassen", seufzte er. Der weitläufige Garten des Anwesens zeigte sich in den schönsten Herbstfarben. Rot, Gold und etwas Grün von immergrünen Sträuchern und Bäumen.


Ircia runzelte die Stirn. Die Bauern hatten ihren Bruder angegriffen? Warum wusste sie nichts davon?
"Dem Fürstensohn geht es gut", meinte ihre Wache. "Diese Bauern sind nicht organisiert genug, um ernsthaften Schaden anzurichten. Die Aufstände werden noch vor dem Winter zerschlagen sein und die Bauern werden dahin zurückkehren wo sie hingehören."

"Ach meint Ihr?", erkundigte sich der Mann und schüttelte den Kopf. "Ich fürchte, da habe ich anderes gehört. Es gibt Gerüchte, wisst Ihr?"
Verstohlen blickte der Mann sich um, bevor er mit gesenkter Stimme weiter sprach.
"Es heißt, sein Trupp sei auf dem Weg nach Westernau überfallen worden. Wenn es stimmt, was die Leute sich erzählen, war es das reinste Blutbad. Man sagt, die wütende Meute hätte den Trupp komplett ausgelöscht. Der junge Fürst soll nur knapp mit dem Leben davongekommen sein."

"Es wird wieder kalt werden in diesen Mauern", bestätigte Jolanda und drückte sich, als würde sie die Kälte bereits fühlen können, ein wenig mehr an Fafnir, "Bitterkalt und dunkel. Aber du wirst mir ein Licht sein und mich warm halten, nicht?" Innerlich schalt sie sich augenblicklich selbst für diese Worte. Das klang so... dumm. So klischeehaft. Aber in dem Augenblick, als sie sie ausgesprochen hatten, waren sie ihr richtig vorgekommen. Und irgendwie taten sie das noch immer.

"Dem Fürstensohn geht es gut!", beharrte der Mann nun fast schon ein wenig aggressiv. "Was Ihr gehört habt, waren nur Gerüchte, nichts weiter. Die Bauern erzählen sich, was sie nunmal gerne hören würden."
Ircia legte besorgt die Stirn in Falten.
"Von wem ist er denn überfallen worden?", fragte sie dann einfach.


"Selbstverständlich", lächelte Fafnir. "Nichts würde ich mir sehnlicher wünschen als ebendies. Meine Gefühle für dich … sind kaum zu beschreiben. Ich würde alles für dich tun, Jolanda."

Der Bärtige schreckte ein wenig zurück ob des aggressiven Tons des Begleiters. Doch die Dame schien weitaus mehr Interesse an seinen Geschichten zu haben, als die Wache. Zögerlich setzte er seine Erzählung fort.
"Es gibt Gerüchte, wisst Ihr. Manche behaupten, die wütenden Bauern haben ihn angegriffen. Aber Lord Grim genießt bei den meisten Bauern noch immer einen guten Ruf. Das ist also schwer zu glauben, selbst wenn sie verzweifelt sind. Jedoch..."
Er blickte sich verstohlen um, als würde er Angst haben, dass sie jemand belauscht.
"Ich denke, es waren keine einfachen Räuber", wisperte er und schirmte seinen Mund dabei zu einer Seite mit der Hand ab. "Es heißt jemand habe versucht den Fürsten umzubringen. Ihm bezahlte Attentäter auf den Hals gehetzt."

Es schockierte Ircia, dass sie diese nicht gerade einfache Tatsache auf diese Weise erfahren musste. Warum hatte ihr Vater ihr dies verschwiegen?!
"Das sind nur Gerüchte", winkte ihr Begleiter ab. "Hört auf die junge Dame zu ängstigen."
"Ich habe keine Angst!", zischte Ircia. Allerdings verkniff sie sich zu sagen, dass sie die Schwester von Grim war, denn wenn dieser angegriffen worden war, konnte es auch sein, dass sie angegriffen würden, sollte sich herumsprechen, dass sie hier unterwegs war.
Unterdessen donnerte es draussen bereits bedrohlich und die ersten dicken Regentropfen klatschten gegen die Fensterscheiben.

Die Worte blieben Jolanda bei Fafnirs Geständnis, wenngleich es nicht unerwartet kam, im Hals stecken. Sie wusste nichts mehr zu antworten, nur noch selig zu lächeln. Sie konnte ihr Herz wild pochen spüren. In diesem Moment spürte sie reinstes Glück. Es war gut, alles war gut. Wen kümmerte es, dass der Hof einsam und verlassen da lag? Was war schon so schlimm daran, dass dunkle Wolken a Horizont aufzogen und Regen und Kälte verhießen? Wie hätte es zählen können, dass sie kein Kind des Fürsten, sondern lediglich sein Mündel, die Tochter eines niederen Grafen war? Allein, dass Fafnir bei ihr war, war von Bedeutung.
Niemand außen ihnen war im Garten, nur sie beide, alleine. Keine unliebsamen Blicke weit und breit. In diesem Moment war es egal, was sich gehörte und was nicht. Sie konnten tun und lassen, was immer sie wollten. Jolanda tat den ersten Schritt, legte Fafnir ganz vorsichtig die zarten Hände auf die Hüften. Sie waren sich jetzt ganz nahe, ihre Körper eng aneinander gedrückt. Jolanda reckte ihm den Kopf entgegen, spitzte die Lippen und schloss ihre Augen.

Der Mann warf einen nachdenklichen Blick nach draußen, bevor er sich kopfschüttelnd wieder seinen Gesprächspartnern zuwandte.
"Wie dem auch sei...die Straßen der Nordermark sind nicht mehr sicher. Hört auf meinen Rat und bleibt nicht zu lange an einem Ort. Ein Sturm zieht auf. Und wer weiß, ob wir ihm standhalten können."
Mit diesen Worten wandte der Mann sich wieder ab und steckte die Nase in sein eigenes Bier.

Fafnir war überrascht von Jolandas Reaktion auf seine Worte. Er hatte erwartet, dass sie beschämt den Boden anstarren und rot anlaufen würde. Stattdessen machte sie Anstalten, ihn zu küssen. Diese Einladung nahm er gerne an. Was war schon ein Kuss?
Er legte die Arme um ihre Hüften und drückte sie fest an sich, während er seine Lippen auf ihre legte und sie leidenschaftlich küsste. Sein Herz begann wieder heftig zu schlagen, denn letztendlich hatte diese Affäre auch etwas Verbotenes an sich. Sie konnten sich glücklich schätzen, dass keiner von ihnen bereits versprochen war.
Er hoffte so sehr, dass der Fürst seine Zustimmung geben würde.


Die beiden Begleiter warfen sich einen Blick zu und drehten sich dann auch wieder richtig in Position. Ein junges Fräulein brachte ihnen das Essen und schweigend nahmen sie die Mahlzeit ein, während der Regen draussen heftiger wurde und der Wind durch die Ritzen zog. Die Fensterscheiben klapperten bedrohlich und Blitze zuckten über den Himmel.
Ircia dachte angestrengt an ihren Bruder. Was, wenn ihm doch etwas zugestossen war? Konnte sie ihm helfen? Wohl kaum … Aber warum hatte ihr Vater es ihr nicht erzählt? Wieso bloss?
Der Appetit war ihr gründlich vergangen. Dennoch ass sie ein wenig was und trank dann auch mehr Wein als gut für sie war.
"Wir übernachten heute hier", sagte sie dann mit fester Stimme - was ihr nicht so einfach gelang, denn der Wein färbte ihre Wangen rot und liess ihre Augen glasig wirken.

Als die Dame und ihre Begleiter die Treppe hinaufstiegen um auf ihr Zimmer zu gehen, sah der Bärtige ihnen nochmal einen Augenblick nach, bevor er wieder auf den Grund seines Bierkrugs starrte. Die Unruhen im Land beschäftigten ihn immer noch. Doch fürchtete er sie nicht. Sondern freute sich darüber.
Ircia Helfort...ob sie so temperamentvoll war, wie man sagte? Jedenfalls war sie neugierig. Eine reizende Eigenschaft. Aber überaus gefährlich.
Der Abend schritt voran und Leute kamen und gingen in der Kneipe. Es waren die unterschiedlichsten Gestalten, ein bunt zusammengewürfelter Haufen. Würde man meinen. Aber wirklich geschickte Unruhestifter erkannte man nicht als solche.
Außer man zählte selbst zu ihnen. Und wusste wer sich hinter den Verkleidungen verbarg.
Der Bärtige sah sich um und erkannte so einige. Einen drahtigen, unrasierten Mann, mit strohblonden Haaren und krummer Nase. Einen Kleinen, mit rundem Knollengesicht. Und eine bullige, muskelbepackte Gestalt, die ins Feuer starrten. Sie saßen an komplett unterschiedlichen Stellen und niemand hätte geglaubt, dass sie zusammen gehören.
Als der Raum sich langsam leerte, die Leute ihre Schlafgemächer aufsuchten, erhob sich auch der Bärtige und schritt zur Tür hin. Die Wirtin runzelte verwirrt die Stirn.
"Ihr wollt bei diesem Wetter doch nicht etwa rausgehen?"
Der Mann blickte sich nur kurz um und lächelte verschmitzt.
"Ich fürchte den Regen nicht", antwortete er. "Er reinigt das Land und wäscht alle Sünden fort."
Ein aufmerksamer Beobachter hätte das Blitzen in den Augen der drei Männer gesehen.
"Außerdem muss ich dringend nach meinem Pferd sehen. Es fürchtet sich sicher. So ganz allein in der Nacht."
Die Wirtin schüttelte nur den Kopf und wusch einen Krug, während der Bärtige zur Tür rausging. Und nach und nach verschwanden auch die letzten Gäste auf ihrem Zimmer. Auch die drei Gestalten gingen hoch. In sicherem Abstand voneinander. Schließlich sollte keiner merken, dass sie das Stichwort gehört hatten. Und bald einer Dame einen Besuch abstatten würden.

Selbstverständlich genoss Ircia die Ruhe eines Einzelzimmers. Hätte man geahnt, dass sie nicht Zuhause übernachten würde, so hätte sie sicherlich eine Zofe bei sich gehabt. Doch so war sie ganz alleine. Ihre beiden Begleiter teilten sich das Zimmer nebenan.
Der Sturm war laut, doch irgendwie hatte er die Fürstentochter eingelullt und letztendlich war sie friedlich eingeschlafen. Das stete Geräusch der Regentropfen und das Donnergrollen erfüllten das Zimmer.

Es war kein allzu großer Gasthof. Nicht viele Zimmer waren zu vergeben, doch heute waren sie alle voll besetzt. Mit Flüchtlingen aus dem Westen und Händlern auf der Durchreise. Die Nacht brach herein und nach und nach wurden alle Lichter gelöscht. Die Menschen legten sich schlafen. Oder taten zumindest so. Bevor sie leise wie ein Windhauch wieder aus ihren Betten herausschlichen.
Nur wenige Einzelzimmer gab es hier. Da war es nicht schwer zu erraten, welches der Dame gehörte. Bald hatten sich drei Schatten vor der Tür versammelt und schauten einander kurz an. Der blonde drahtige, lauschte nacheinander an den Türen. Hinter einer Tür hörte er ein lautes Schnarchen mehrerer Personen. Da waren also die Wachen drin. In der anderen war hingegen nur ein kaum hörbares Atmen zu vernehmen. Das war also ihr Ziel.
Mit Fingerzeichen gab er seinen Kameraden zu erkennen, was sie zu tun hatten. Und der kleine Kartoffelkopf kramte in seiner Tasche, kniete sich vor der Tür hin und schob vorsichtig einen Dietrich in das Schloss während die anderen angespannt Schmiere standen. Der Blonde hatte ein Messer mitgebracht, der Große einen Sack und ein Seil. Und das Gewitter versteckte ihre Tat vor ungewollten Ohren. Hoffentlich.

Das Gewitter verbarg das Treiben vor der Tür sehr gut. Ircia hörte das leise Klicken nicht, als die Tür aufsprang und leise knarzend geöffnet wurde. Sie blieb ruhig.
Erst als die Gestalten ihr Bett beinahe erreicht hatten, schlug sie aufgrund der ächzenden Dielen die Augen auf. Allerdings war sie schläfrig und es war so finster im Zimmer, dass sie kaum etwas sah.
Sie drehte isch auf die andere Seite und schloss die Augen.

Einen Moment hatten die Eindringlinge geglaubt, die Frau hätte sie bemerkt, doch ihre Sorgen waren offenbar unberechtigt gewesen. Sie hielten einen Moment inne und warteten, ob sie sich erneut regen würden. Der Große war nahe bei der Tür geblieben, nahm einen Stuhl aus dem Zimmer und trat damit auf den Flur hinaus, um das Zimmer nebenan zu verbarrikadieren. Schließlich wollten sie keine Einmischung.
Seinen Sack und das Seil hatte er den beiden anderen überlassen, die nun zu beiden Seiten des Bettes Stellung bezogen. Der Drahtige näherte sich ihr von hinten, bereit sie festzuhalten, während der Knollenkopf sich mit dem Seil ihren Händen näherte. Sie kamen ihr immer näher, Millimeter für Millimeter, bis sie beinahe ihre Haut mit den Fingern berühren konnten.
Dann schlugen sie zu.
Mit dem einen Arm umschlang der Blondschopf ihre Hüfte und hielt sie fest umklammert, während er ihr mit der anderen den Mund zu hielt. Währenddessen band der Schlossknacker ihr mit Fingerfertigkeit die Hände zusammen.

Da war Ircia natürlich auf einen Schlag hellwach. Sie schnaufte und wollte schreien - doch der Schrei war durch die Hand, die ihren Mund eisern zuhielt, so sehr gedämpft, dass er das Unwetter kaum übertönte.
Sie zappelte, schüttelte den Kopf und trat um sich, allerdings mit nicht sonderlich grossem Erfolg. Sie spürte das raue Seil um ihre Handgelenke und wurde von Sekunde zu Sekunde panischer, als sie langsam aber sicher realisierte, dass sie gerade entführt wurde.

"Halt still", zischte der Blondschopf ihr zu und verstärkte seinen Griff um das Weib, das wild zappelnd Widerstand leistete.
Der Knollenkopf hingegen hatte ihr die Hände zusammengebunden und wandte sich nun ihren Beinen zu. Doch die Frau war energischer als erwartet und trat wie wie wild um sich. Bevor er ihre Beine zu fassen bekam, bekam er einen Tritt in die Magengrube und konnte sich ein dumpfes Stöhnen nicht verkneifen.
"Kleines Miststück", zischte er.
"Halt's Maul und beeil dich", fauchte der andere ihn an. "Soll uns vielleicht jemand hören?!"
Schließlich bekam er auch die Beine zu fassen und band ihr die Knöchel zusammen, woraufhin er mit dem Sack auf ihren Kopf zutrat. Er hoffte, dieses Weib war den Aufstand auch wert. Was wenn die Wachen jetzt wach wurden?! Lange würde der Stuhl als Barrikade an ihrer Tür auch nicht halten.

Als der eine Kerl ihren Kopf loslassen musste, weil man ihr einen Sack über den Kopf gestülpt hatte, gelang es Ircia, dem Typen kräftig in den Finger zu beissen, als er die Hand wegzog.
Sie begann zu kreischen und fluchen und verteufelte sie alle.
Irrational musste sie auf einmal daran denken, dass sie nur ihre Unterbekleidung trug und man sie doch unmöglich so entführen konnte!
Im Nebenzimmer waren die Wachen nun in der Tat aufgewacht, wussten aber noch nicht wirklich warum.