Re-BIRTH (Fortsetzung)

Bei dieser gespielten Höflichkeit kam Kaddie die Galle hoch. Oder war der Kerl tatsächlich so blöd, an diesem Ort mit so was anzukommen.
"Barker hatte auch schonmal schlauere Spione", meinte sie abschätzig. "Die die uns sonst immer beschatten waren wenigstens clever genug, sich nicht blicken zu lassen. Und wenn sie es getan haben, waren sie zumindest nicht allein."
Misstrauisch ließ sie ihren Blick nochmal zu den Seiten gleiten.
"Entweder du bist also verdammt dämlich...oder du willst etwas von uns."

In jenem Moment ertönte hinter Livana das Geräusch von Pistolen, die entsichert wurden.
"Sie spricht es aus, Tristan", ertönte die Stimme eines jungen Mannes, aber Livana hatte zu viel Angst, um sich umzudrehen. "Du bist zu blöd. Und zu langsam."
Tristan sah Betreten beiseite, als wäre es ihm irgendwie unangenehm, nur Teil des Plans zu sein.

Kaddie wusste nicht, was sie mehr aufregte, dass Barker tatsächlich soweit ging, oder darauf, dass sie offenbar auf den ältesten Trick der Welt reingefallen war.
"Jetzt tu nicht so als hättest du ein schlechtes Gewissen", bat sie Tristan, bevor sie einen Blick über die Schulter warf. Um dort das exakte Ebenbild des Milchgesichts zu sehen. Eine ungepflegte Version des ach so höflichen Mannes.

Der mit den Knarren schaute Tristan an. "Ohne Spaß, sie hat recht. Mir wird gleich schlecht." Anschließend richtete er seinen Blick wieder auf die beiden Mädchen. "Ihr habt jetzt zwei Möglichkeiten. Entweder, ihr kommt freiwillig mit oder nicht. Ich denke wohl kaum, dass ich das groß erklären muss."

Mit düsterer Miene schaute Kaddie zwischen den beiden Gestalten hin und her. So leicht in die Falle getappt zu sein gefiel ihr herzlich wenig. Noch weniger die Aussicht, wie schnell die Straßenköter sie gefunden hatten. Aber egal wie schnell sie war, in diesem Moment hatten die beiden Brüder eindeutig die Oberhand.
Sie sah kurz runter zu Livana. Das Mädchen wirkte nervös. Falls ihre Kräfte ihnen helfen konnten, dann nicht in diesem Augenblick.
"Schon verstanden", murrte sie. "Aber die Hände dürfen wir unten lassen, oder?"

Die Wahrheit war, dass Livana einfach nur höllische Angst hatte, wobei sie nicht einmal selbst wusste, wovor genau.
Es klapperte, als der mit der Knarre zwei paar Handschellen hervor zog und eins davon seinem Bruder zuwarf. "Hände Können unten bleiben, wir nehmen lieber die."
Doch Tristan hielt kaddie das paar nur entgegen. "Mach du das bei dem Mädchen", sagte er, als schieb er um Livanas Fähigkeiten zu wissen.

Kaddie sah mit düsterem Blick zwischen Tristan und dem kleinen Stück Metall hin und her. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten und am liebsten hätte sie ihm dem Kerl seine eingebildete Fresse eingehauen. Aber sie sah keinen anderen Weg. Zumindest keinen, der für sie nicht mit einer Kugel im Rücken geendet wäre.
Mit wütendem Schnauben riss sie dem Kerl die Handschellen aus den Händen und wandte sich Livana zu. Sie stockte jedoch als sie sah, wie verängstigt das Mädchen aussah. Jetzt fühlte sie sich nur noch elender.
Sie beugte sich zu dem Mädchen herunter und legte ihr vorsichtig eine Hand auf die Schulter.
"Wird schon alles gut", flüsterte sie ihr zu. "Wenn du uns was tun wollten, hätten sie es schon getan."
Dass das nicht sehr überzeugend klang, musste sie selbst zugeben. Dafür würde sie diese Brüder umbringen.

Livana nickte langsam und wusste nicht, was sie sagen sollte. Letztendlich auch egal, sie bekam den Mund eh nicht auf.
Als dann auch Kaddie mit Handschellen versehen war, gingen sie los. Und nach Augenbinden auf, mehrmals um die eigene Achse drehen, seltsamen Schleichwegen und so weiter, kamen die vier im Hauptquartier der Underdogs an.
Arjan und Tristan hatten sich ausgesprochen penibel darum gekümmert, dass die beiden Mädchen keine Ahnung hatten, wo sie sich eigentlich befanden und Livana hätte ihnen sogar ohne Weiteres geglaubt hätten sie ihr gesagt, sie wären nun im Regierungsviertel.

Kaddie wusste nicht, was sie mehr störte. Die Art, wie diese Straßenköter mit ihnen umgingen, oder die Tatsache, dass sie sich so leicht hatten einfangen lassen. Ihr Geruchssinn half ihr hier leider nicht weiter, denn ganz Sodom war eine einzige Jauchegrube. Doch als sie endlich im Hauptquartier ankamen, wusste Kaddie es. Der widerliche Geruch nach Kautabak war unverkennbar.
Als man ihnen die Binden abnahm, fanden sie sich in einem kleinen, runtergekommenen Raum wieder, die Wände wären selbst mit Anstrich und Tapetenwechsel niemals sauber geworden. Spärlich eingerichtet war er mit versifften Möbeln, größeren Kissen und ein paar Tischen mit einem alten Plattenspieler. An dem eine Gestalt hantierte, die noch zehn Mal heruntergekommener war, als der Raum selbst. Mit großer Sorgfalt hob sie eine Platte aus einer Verpackung und legte sie auf den Spieler, der kurz darauf begann, eine Melodie aus den 1950ern zu spielen.
"All die Jahre", meinte Kaddie düster. "Und dein Musikgeschmack hat sich kein bisschen gebessert, Barker."
"Genauso wenig deine Manieren", die Stimme des Mannes war rau und kratzig, sein Haar war fettig und verfilzt. Er drehte sich zu ihnen um und wären die ganzen Munitionsgürtel um ihn herum nicht gewesen, hätte Kaddie geglaubt, es mit einem stinknormalen Straßenpenner zu tun gehabt.
Die müden blassblauen Augen, halb verdeckt von dem Haarschopf, musterten sie eingehend.
"Bei unserer ersten Begegnung wolltest du mir die Finger abbeißen, wenn ich mich recht entsinne."
"Hat nur leider nicht geklappt."

Livana sah sich verunsichert um. Zuerst sah sie hinter sich, sah die geschlossene Tür und wie Tristan und sein Bruder sich zu ihren Seiten platziert hatten. Als sie nach vorne sah und diesen Mann erblickte, wurden ihre Knie komplett weich, sodass es ihr schwer fiel, stehen zu bleiben. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie ihn an, wusste nicht, was zu tun war. Er machte ihr Angst. Es war anders als bei den Jägern der BIRTH, eine unbestimmte Art von Angst, bei der sie sich nicht daran erinnern konnte, sie jemals zuvor so verspürt zu haben. 
Durch den Wortwechsel mit Kaddie schloss sie, dass das der Anführer der Underdogs war und jetzt konnte sie auch verstehen, warum der Rest von Justins Familie bei Erwähnung des Namens entsprechend dreingeschaut hatte, sie selbst sah im Moment vermutlich auch nicht anders aus. 
Unruhig trat sie auf der Stelle hin und her und ganz leicht, absolut nicht beabsichtigt, etwas näher zu Kaddie.

Für Kaddies Bemerkung hatte Barker nicht viel mehr als ein sarkastisches Lächeln übrig. Anstatt zu antworten, biss er lediglich ein Stück Kautabak ab, um es mit seinen Zähnen zu bearbeiten.
Eine Weile herrschte Stille im Raum. Barker musterte Kaddie von oben bis unten, sie erwiderte seinen Blick düster. Dann mit einem Mal fiel ihm Livana ins Auge. Und mehr noch ihre Augen. Mit einer Sonnebrille konnte man schlecht eine Augenbinde tragen und so hatte er einen hervorragenden Ausblick auf ihre riesigen Froschaugen.
Er spuckte das Stück Tabak in einen Napf am Rande des Raumes, schritt auf die beiden Mädchen zu und kniete sich vor Livana hin.
"Und wen haben wir hier?", erkundigte sich Barker und hob Livana das Kinn an. "Was nimmst du denn dein kleines Schwesterchen an solche Orte mit? Oder...gehörst du gar nicht zu Erics Stall?"

Livana öffnete den Mund leicht, war aber so starr vor Angst, dass sie es nicht schaffte, auch nur einen winzigen Laut Abseits ihres zitternden Atems heraus zu bekommen.
"Livana Cross", nahm Tristans Bruder ihr schließlich ab. "Eines der entlaufenen BIRTH-Experimente." Mit geradem Blick sah er die räudige Wand gegenüber an, nicht abschweifend zu einer der umliegenden Personen.
Tristan sah etwas beleidigt aus. Es war zu vermuten, dass diese Information eigentlich sein Verdienst war.

Der kleingeistige Streit der beiden Brüder interessierte Kaddie kein bisschen. Sie hatte in diesem Moment nur Augen für die verängstigte Livana, und den Rebellenführer, der sie ansah, als würde er den Nutzen eines Lasttiers abschätzen wollen.
"Hör auf sie anzugrabbeln!", platzte es aus ihr heraus und sie trat nach Barker, der aber lediglich mit einem müden Gesichtsaudruck zurückwich.
"Ganz der Vater", meinte Barker. "Der liebe Eric war auch so leicht zu provozieren."
Kaddies Vernunft setzte einen Moment aus. Sie versuchte noch einen Moment sich zu fassen, dann sah sie rot, stürmte auf Barker zu einem weiteren Tritt ausholend. Sie war in der denkbar schlechteren Situation, ihre Arme waren auf dem Rücken und Barker ließ sich von sowas nicht beeindrucken. Aber sie hatte die Kontrolle verloren.

Keinen Moment später wurde sie von Arjan zu Boden gerissen, der mehr Kraft hatte, als man ihm ansah und außerdem seinen Job ausgesprochen ernst nahm.
Die Arme hatte sie ja ohnehin schon auf dem Rücken, jetzt zusätzlich noch Arjans Knie und er schaute zu ihr hinab, als würden ihn ihre Beweggründe einen feuchten Dreck interessieren.

Livana war zusammen gezuckt und hatte leise aufgewimmert, als Kaddie sich auf Barker gestürzt hatte. Jetzt lag Kaddie unten und sie wünschte sich nichts sehnlicher, als dass sie auf die blöde Idee, diese Hunde zu suchen, gar nicht erst gekommen wären.

Kaddie knirschte mit den Zähnen und starrte unversöhnlich zu Arjan auf. In diesem Augenblick wünschte sie sich nichts sehnlicher, als Kleinholz aus dem Kerl zu machen.
"Schluss jetzt mit dem Zirkus", wies Barker an. "Arjan, hol sie wieder auf die Beine. Schließlich ist sie nicht hier, damit wir Höflichkeiten austauschen können."

Arjan erhob sich und zog Kaddie wortlos hoch, schließlich war aufstehen ohne Arme etwas verdammt kompliziertes. Anschließend stellte er sich wieder zum Eingang, zur anderen Seite seines Bruders.

Kaddie warf den Brüdern über die Schultern noch einmal einen düsteren Blick zu, bevor sie sich wieder an Barker wandte.
"Kommen wir also zur Sache", meinte dieser. "All die Jahre haben wir deiner Familie und dir angeboten, sich unserem Kampf anzuschließen. Warum kommst du plötzlich zu uns?"
"Glaubst du, ich will mich dir anschließen?", fauchte sie. "Immerhin hast du deine Schläger auf uns gehetzt."
"Sei nicht albern, Kaddie", sagte er müde. "Du weißt genauso gut wie ich, dass du nicht hierher gekommen wärst, wenn nicht um nach mir zu suchen. Hab nur Sorge dafür getragen, dass du nicht ewig suchen musst. Also, hier bin ich. Was willst du von mir?"

Arjan musste bei dem Wort "Schläger" fast feixen, konnte es sich aber verdrücken.

"Kaddie... bitte", kam es ganz, ganz leise von Livana, die sich auf der Unterlippe rumkaute, so dass man sie kaum verstehen konnte - von der Lautstärke einmal ganz zu schweigen. Aber sie wollte nicht, dass sie sich mit Barker bekriegte, dass das alles länger dauerte, als es musste. Sie hatten davon nichts und Justin erst Recht nicht. Und wegen dem Idioten waren sie schließlich hier.

Kaddies Gesichtszüge wurden weicher als sie Livanas Flehen hörte. Sie knirschte mit den Zähnen und schluckte ihren Zorn herunter.
"Es geht um meinen Bruder", sagte sie schließlich. "Justin ist spurlos verschwunden, vor etwa einem Jahr. Jetzt ist er wieder aufgekreuzt. Nur um einen Moment später von BIRTH-Jägern aufgegabelt zu werden."
Barker verzog keine Miene während er ihren Schilderungen folgte.
"So? Der Junge hatte ein Talent dafür, sich in Schwierigkeiten zu bringen, liegt wohl in der Familie." Er biss noch ein Stück Kautabak ab. "Und weiter?"
"Wir wollen wissen, was ihr darüber wisst", sagte sie. "Oder besser, was ihr mit seinem Verschwinden zu tun hattet."

Sie versuchte, langsam und gleichmäßig zu atmen, um sich selbst zu beruhigen und vielleicht auch nicht mehr solche Angst zu haben, doch es funktionierte nur mäßig. Warum in einer solchen Situation? Im Grunde genommen war sie bei der BIRTH und in Mudtown aufgewachsen, sie durfte jetzt keine Angst haben.
Beinahe unfreiwillig suchte sie mit den Blicken den Raum nach einer Fluchmöglichkeit ab, fand aber keine. Eine Tür zur Linken, ja, sonst nichts. Plus die Tür hinter ihnen. Verdammt.
"Bitte, Kaddie", flehte sie gedanklich jene Götter an, an die sie eigentlich nicht glaubte, "beeil dich."

"Kann sein, dass er hier war", antwortete Barker schließlich nach einem Moment des Schweigens. "Aber ich wär wohl ein ziemlich bescheidener Rebellenführer, wenn ich jedem sagen würde, mit wem wir verkehren."
"Sag bloß, du traust mir nicht?", entgegnete Kaddie kühl.
"Du hast jahrelang abgelehnt, für uns zu arbeiten. Wer sagt mir, dass du nicht für unsere Feinde spionierst?"
"Jetzt wirst du aber persönlich."
"Sagt mal Jungs", wandte er sich an Tristan und Arjan. "Was war nochmal unser nächster Plan? Wollten wir etwas sprengen oder...nein wartet, wir wollten was stehlen, richtig?"

"Stehlen, Barker. Stehlen", meinte Arjan beschwichtigend, woraufhin Tristan ihm einen schiefen Seitenblick zuwarf.
"Quatsch nicht", behauptete sein Bruder. "Wir wollten uns in nächster Zeit auf Propaganda konzentrieren."
"Du solltest echt besser zuhören, du Lauch."

"Schluss mit dem Gezanke." Barker klang zunehemend entnervt. "Propaganda kann man auf vielfältige Art machen, also warum machen wir nicht beides?"
Er warf einen langen Blick auf eine Karte, Sodoms die an der Wand hing.
"Wisst ihr, dass morgen Nachmittag ein Zug aus dem Regierungsviertel ankommt?", erkundigte er sich. "Soll ein paar Materialien zu den Eierköpfen von der Regierung bringen. Und lässt im Gegenzug auch was da." Er sah Arjan und Tristan mit hochgezogenen Brauen an. "Was meint ihr? Könnten die Damen uns dabei nicht irgendwie behilflich sein?"

"Theoretisch, ja", kam es langsam und etwas nachdenklich von Tristan, der Kaddie und Livana aus dem Augenwinkel musterte.
"Theorie ist das eine", murrte Arjan, verschränkte die Arme und schaute Kaddie direkt an. "Aber ich habe keine Lust, neben dem eigentlichen Auftrag noch darauf Acht geben zu müssen, dass er uns von den Zweien nicht versaut wird."

Kaddie erwiderte Arjans abschätzigen Blick und kniff die Augen zusammen.
"Wie wär's wenn du mir mal die Handschellen abnimmst. Bin mal gespannt, wie lang du dann noch das Maul aufreißt."
"Hach, mir geht richtig das Herz auf", kommentierte Barker den Dialog trocken, bevor er sich an Livana wandte. "Könnte aber in der Tat dreckig werden. Kleine Mädchen, die Angst haben, sollten lieber nach Hause gehen."