[RPG-Thread] Die Stunde der Krähen

"Da muss ich Euch leider enttäuschen", informierte der Kapitän sie lapidar. "Aber Ihr könnt Euch sicher sein, dass Euch hier eine Behandlung zukommen wird, die eher Eurem Stand entspricht. Schließlich seid Ihr für meinen Auftraggeber ein wichtiger Gast."
Ohne weitere Erläuterungen führten die Männer Ircia an Deck des Schiffes geführt, wo die Männer das Boot gerade an der Anlegestelle fest machen. Entlang des Flusses Silvas gab es ein unzählige kleinere Anlegestellen und größere Reedereien, doch diese hier lag etwas abgelegener. Die Aktion fand nicht umsonst im Schutz der Nacht statt.
Am Kai warteten bereits einige Wachen, die sich dunkle Kapuzen über den Kopf gezogen hatten. Prüfend musterten sie die Prinzessin, wechselten einige Worte mit dem Bootsführer und reichten ihm schließlich einen Beutel. Während der Mann sich davonmachte, führte man Ircia durch einige engere Gassen, bis man einen Anlegesteg mit einem kleineren Boot erreichte, nicht mehr als eine Fähre. Hier verband man Ircia die Augen und ließ sie vorsichtig auf der Nussschale Platz nehmen. Von der versteckten Anlegestelle in der Burg von Jenienburg und den Gängen, durch die man sie dort führen würde, sollte sie lieber nichts wissen.

Das war ja wirklich ein gut organisiertes Verbrechen! Etwas fassungslos, liess sie alles über sich ergehen.
Wie lange musste das geplant worden sein? Hatte man sie beschattet? Aus Zufall konnte das alles ja nicht geschehen sein. Am liebsten wäre sie vom Boot gesprungen. Doch sie ging davon aus, dass diese Kerle sie festgehalten hätten, bevor sie überhaupt die Kante des Boots erreicht hätte.
Sie spürte schliesslich, wie sie irgendwo anlegten und jemand fasste sie am Arm, um ihr aus dem Boot zu helfen.

Es hätte kaum weiter an der Wahrheit vorbei gehen können, hätte man behauptet, eine Abwechslung wäre Dared Melior nicht willkommen gewesen. Das Leben eines Truppenkommandanten und Anführer einer Goldgräberkolonie, welches er in den letzten Wochen gelebt hatte, hatte sich als herbe Enttäuschung erwiesen und ging so vollkommen an den Vorstellungen, die er anfangs davon gehabt hatte, vorbei, dass er bereits bereute, seinen Vater um dieses Kommando gebeten zu haben. Wäre nicht Lucretia gewesen, vor der er sich um nichts in der Welt eine Blöße geben durfte, er hätte es kaum ausgehalten, seinen Missmut zu verbergen.
Seine Tage verbrachte er ganz überwiegend damit, nach Zerstreuung zu suchen. Die Jagd, natürlich. Das gab die Gegend her. Kartenspiel. Alkohol. Und Frauen natürlich. In seiner Truppe gab es keine und auch die Arbeiter waren zum ganz überwiegenden Teil Männer, aber wo immer eine derart große Ansammlung von Männern zusammen kam stellte sich eine ganz spezielle Art von Frauen rasch und wie von selbst ein. Und wie der glückliche Zufall es wollte war es eine Art, mit der Dared gut etwas anzufangen wusste. Und doch: im Vergleich zum Leben in Merrisholt waren die Kartenspiele öde, der Alkohol billig und die Frauen schlicht. Etwas, was ihn aus dem öden, täglichen Trott riss, war also genau das, was Dared brauchte.
Wäre es nur nicht sein Bruder gewesen! Lothar war so ziemlich der letzte, mit dem Dared hier gerechnet hatte. Sollte der nicht auf diplomatischer Mission unterwegs sein? Und wenn der Patrizier sich vom Fortschritt des Unternehmens überzeugen wollte, hätte er dafür nicht einen niederen Lakaien schicken können? Dennoch tat es irgendwie gut, hier draußen in der Wildnis ein bekanntes Gesicht zu sehen. Und so war Dareds Freude über Lothars Ankunft nur zum Teil gespielt.
"Lothar, Bruder!", grüßte er überschwänglich und schloss den Älteren, kaum dass dieser vom Pferd gestiegen war, in die Arme. Ein wenig brüderlichen Zusammenhalt nach außen demonstrieren. "Freut mich, dich hier draußen zu sehen. Wir haben Fortschritte gemacht, große Fortschritte!" Das war nicht gelogen. Ein Dutzend größerer und kleinerer Gebäude bildete inzwischen ein ansehnliches kleines Dorf unterhalb des Lagers und wenngleich noch immer überall gearbeitet wurde, so war doch offenkundig, dass bald genug getan war, um mit dem Schürfen zu beginnen. "Komm in mein Zelt, Lothar. Trink einen Becher Wein mit mir und wasch dir den Staub der Straße vom Leib."

Die nächsten Minuten mussten sich für Ircia wie eine Ewigkeit anfühlen, denn sie wurde durch ein langes Netzwerk unterirdischer Katakomben und Geheimgänge unterhalb von Schloss Jenienburg geführt. Es wurde kaum ein Wort gesprochen, immerhin herrschten strikte Anweisungen, ihr keine Möglichkeit eines Fluchtweges zu offenbaren.
Als man ihr schließlich die Binde wieder abnahm, fand sie sich in einem geräumigen Zimmer in einem Turm von Schloss Jenienburg wieder. Die Einrichtung war dezent, aber durchaus elegant, ein prächtiges Himmelbett stand ihr zur Verfügung. Das Fenster war verschlossen, doch hatte man durch die Glasscheibe Aussicht auf das Meer.
Zwei Dienstmädchen standen mitten im Raum und neigten den Kopf vor Ircia. Hinter ihr war immer noch eine der Wachen, die sie herbegleitet hatten.
"Seid gegrüßt, Herrin", sprach das eine Mädchen lächelnd. "Ihr müsst erschöpft sein, von der langen Reise. Wünscht Ihr, ein Bad zu nehmen?"

In der Tat, ein neues Schürflager auszuheben war alles andere als spannende Arbeit. Die Verpflegung war bei weitem nicht auf dem Standard, den eine Melior gewohnt war, die Arbeit mit den Zahlen war auf Dauer trocken und die meisten Männer entweder dumm, grob oder hässlich, gelegentlich auch alles zusammen. Doch Lucretia wusste, worauf sie sich eingelassen hatte, also beschwerte sie sich nicht.
Nur war die ganze Aktion bei weitem nicht so chancenreich, wie sie sich erhofft hatte. Entgegen ihrer Erwartungen hatten die Helforts sich nicht blicken lassen, die Nordermark musste wirklich in Aufruhr sein. Genau genommen liefen die Dinge sogar so gut, dass es sie innerlich aufseufzen ließ. Dared verhielt sich zwar mehr oder minder wie erwartet, hatte sich jedoch bisher noch keine Blöße gegeben, die sie hätte ausnutzen können. Natürlich überwachte sie einen Großteil der Logistik, doch im Aufbaustadium nützte ihr das nicht viel.
Die Kunde von der Ankunft Lothars war somit auch ihr eine willkommene Abwechslung. Als sie Dareds Zelt betrat, schenkte sie dem älteren ihrer Cousins ein freudiges Lächeln.
"Lothar, so eine Überraschung. Was verschafft uns denn diese Ehre?"

Mit einem leichten Lächeln erwiderte Lothar die Begrüssung, ehe er sich ins Zelt führen liess, wo er das Angebot annahm und sich erst einmal wusch. Dann setzte er sich zu einer Karaffe Wein. Gerade, als sie ein Gespräch beginnen wollten, betrat Lucretia das Zelt.
"Guten Tag, meine Liebe", begrüsste er sie und erhob sich, um ihr die Ehre zu erweisen.
"Nun, ich dachte, wenn mein kleiner Bruder hier oben ist, muss ich ihm doch einen Besuch abstatten. Es gibt einige Dinge zu besprechen."
Er blickte wieder zu Dared, als er sich setzte und zum Wein griff.
"Allem voran - deine hoffentlich zukünftige Gemahlin ist entführt worden. Die Helforts würden uns die Füsse küssen, wenn wir sie fänden..."


Erst einmal sah Ircia sich um. Dieser Raum wirkte, als würde er zu einem Adelshaus gehören. Auch die Dienstmädchen sprachen dafür. Es wäre ja noch das eine gewesen, wenn sie von irgendwelchen hinterhältigen Rebellen entführt worden wäre. Doch das hier schien ein tiefschürfender Komplott gegen sie und ihre Familie zu sein.
Und diese herausragende Freundlichkeit, die von diesem einen Dienstmädchen ausging, liess in ihr die Galle hochsteigen. Diese Dreistigkeit! Natürlich konnte das Mädchen an sich nichts dafür. Sie tat wohl nur ihre Pflicht. Trotzdem hatte die Fürstentochter zur Zeit nichts anderes in der Hand, als ihre Wut an den beiden Frauen auszulassen.
"Was ich wünsche?!", fauchte sie. "Dass ihr geht! Allesamt! Ich will hier niemanden sehen - es sei denn es ist mein Vater oder mein Bruder höchstpersönlich! Ich kann auf eure Gastfreundlichkeit verzichten!"
Sie schnaubte und spuckte anschliessend der Wache vor die Füsse.

"Dann ist es also beschlossene Sache?", hakte Dared kühl nach, Lothar gegenüber Platz nehmend und Lucretia einladend einen dritten Stuhl weisend, "Vater will mich unter die Haube bringen. Mich mit einer Helfort verheiraten?" Er griff ebenfalls nach der Weinkaraffe, füllte sich einen Kelch fast bis zum Rand und nahm einen Schluck, der diesen beinahe wieder bis zur Hälfte leerte. "Was ist, wenn ich gut darauf verzichten könnte, dass Oswin Helforts Tochter wieder auftaucht?", fuhr er dann fort, "Man sagt, sie habe den Charakter einer Kratzbürste. Ich glaube, wenn ich sie dann nicht vor dem Altar küssen muss, dann kann ich auch darauf verzichten, dass ihr Vater mir die Füße küsst..." Sicher, es würde die Pläne des Patriziers furchtbar durcheinander werfen. Aber andererseits liefen dessen Pläne ja auch Dareds eigenen diametral entgegen.

Dareds Verärgerung über die Pläne des Patriziers schmeckten Lucretia in diesem Moment süßer als Honig. Noch gar nicht lange war es her, da hatte er gespöttelt, dass sie wahrscheinlich das Los einer politischen Allianz ereilen würde. Nun war er es, der leibliche Sohn des Patriziers, der gegen seinen Willen gezwungen war, eine Frau zu heiraten, die ihm abstoßend erschien. Und das alles zu dem Zweck, dass der Patrizier seinen Frieden mit der Nordermark hatte, während sie noch frei wie ein Vogel war. Die Ironie war einfach köstlich.
"Das würde erklären, warum wir von den Helforts noch nichts gehört haben", mutmaßte sie. "Wir hatten ja befürchtet, sie würden unsere Aktionen bemerken und unterbinden wollen. Aber Bauernaufstände und eine Entführung stellen wohl zu viel der Ablenkung dar."
Sie schenkte sich selbst einen Kelch ein und nippte an dem Wein.
"Gibt es denn Hinweise auf den Entführer?"

Die beiden Dienstmädchen zuckten merklich zusammen, die Wache verzog ärgerlich das Gesicht.
"Ihr solltet Euer Verhalten in Gegenwart der Herrin lieber zügeln", entgegnete er kühl. "Unflätiges Verhalten schätzt sie kein bisschen. Genauso wenig wie ein ungepflegtes Äußeres."
Eines der Mädchen meldete sich noch einmal schüchtern zu Wort.
"Wir können Euch auch frische Kleidung bereit stellen. Was immer Ihr wünscht, wir können es Euch bringen, Milady."

"Ach, ich habe mit dem Mädchen gesprochen und sie ist definitiv eine angenehmere Gesprächspartnerin als du es manchmal bist", winkte Lothar ab.
"Ausserdem ist es Zeit, dich unter die Haube zu bringen. Dann hast du eine Beschäftigung, die dich fordert." Er blickte seinen jüngeren Bruder tadelnd an und schaute dann zu Lucretia.
"Nein. So viel ich weiss nicht. Soweit ich weiss, wurde bisher aber auch kein Lösegeld oder Ähnliches gefordert.... Wir wissen also noch nicht einmal, wozu man sie entführt hat.... Aus Spass die Fürstentochter zu entführen lohnt sich auch kaum..."


Ircia schnaubte und zwang sich zur Ruhe. Sie musste diese Situation galant lösen.
Sie wandte sich der Wache zu.
"Darf ich wenigstens baden ohne von der Anwesenheit eines Mannes gestört zu werden?!", blaffte sie ihn an.

"Ich sehe noch immer nicht, warum diese Sache ausgerechnet uns scheren sollte", erwiderte Dared und gab sich dabei wenig Mühe zu verbergen, dass das Thema ihn langweilte. Und dabei hatte er so große Hoffnungen darauf gesetzt, dass Lothars Besuch ihm angenehme Zerstreuung brachte. Warum also musste der Kerl über sowas sprechen? "Ich gehe davon aus, der Fürst und sein Sohn rennen durch die Nordermark wie kopflose Göckel", fuhr er fort, "Der einzige Gedanke, den wir uns also um diese Entführung machen sollten, ist, wie wir den meisten Profit daraus schlagen können, dass die Helforts nun derart abgelenkt sind. Meinst du, wir könnten diese aufständischen Bauern dazu bringen, ihren Grafen aufzuhängen und die Grafschaft dann an uns zu übergeben?"

Dareds unwilliges Verhalten war durchaus amüsant, doch behielt Lucretia ein nachdenkliches Gesicht, als sie an ihrem Wein nippte.
"Vielleicht. Onkel Lucius scheint zumindest daran zu liegen, dass diese Situation andauert, sonst hätte er seinen Schoßhund nicht dorthin geschickt. Aber bevor den Helforts die Sache über den Kopf wächst, wird er wohl kaum direkt vorgehen. Der Patrizier würde kein Gebiet annektieren, ohne dass er die nötigen Mittel zur Legitimation hat."
Vorsichtig wog sie das Weinglas in ihrer Hand.
"Ob die Bauern hinter der Entführung stecken? Andererseits hätte ein aufgebrachter Mob dazu kaum die Finesse."

Der Wachmann gab ein verächtliches Schnauben von sich, aber letztlich fügte er sich und verließ wortlos das Zimmer. Daraufhin machten die Dienstmädchen sich daran, Ircia ein Bad vorzubereiten.
"Wir hoffen, die Temperatur ist für Euch angenehm", sprach eines der Mädchen, als die Wanne bereit war. "Wir haben uns die Freiheit genommen, einige Kleider zurechtzulegen, die Euch passen sollten. Die Herrin gedenkt, in der Frühe mit Euch zu speisen und es soll Euch an nichts mangeln."
Ihr Gesicht erhellte sich kurz.
"Verzeiht, seid Ihr nicht hungrig? Wir können Euch gerne eine Kleinigkeit bereit stellen."

Der Älteste der drei seufzte tief. Dared war einfach immer noch ein kleines Kind, das am liebsten die Sandburgen der anderen Kinder niedertrampelte.
"Ich halte es für zu auffällig. Der Verdacht würde ziemlich rasch auf uns fallen, wenn die Unruhen zunehmen, während die Helforts ihre Prinzessin suchen. Schon dieses Lager hier ist doch nur reine Provokation. Wäre ich dein Vater gewesen, hätte ich dir diesen Schwachsinn nicht erlaubt. Aber nun ist das Kind in den Brunnen gefallen und du wirst dieses Mädchen heiraten. Ob es dir nun passt oder nicht!"


"Nein. Ich möchte nur baden und dann ins Bett. Wenn möglich alleine", sagte sie immer noch reichlich unterkühlt, nun aber immerhin etwas sanfter. Die Mädchen konnten ja wohl wirklich nichts für ihre Situation.

"Jaja, falls ihr Vater sie wieder finden sollte und sie nicht längst tot und geschändet in irgendeiner Gosse liegt", entgegnete Dared gelangweilt, es durch seinen leiernden Ton offenkundig machend, dass er letztere Variante für die entschieden Wahrscheinlichere hielt. Und wie sollte es auch anders sein? Warum sollte jemand die Prinzessin entführen? Solange man sie verborgen hielt brachte sie keinen Nutzen. Und wenn der Entführer sich offenbarte, dann hatte er binnen weniger Tage ein Heer vor seiner Schwelle stehen und konnte froh sein, wenn er im Zuge der Gefechte ein blutiges Ende fand. Nein, für Dared lag der Fall eindeutig: irgendein gemeiner Verbrecher hatte sich eine schöne Nacht mit der Prinzessin gemacht und ihr dann die Kehle durch geschnitten. Und ihm damit unwissentlich einen gewaltigen Gefallen getan.
"Aber was dieses Lager hier angeht...", fuhr er fort und war mit einem Schlag wieder ernst geworden. Das lose überschlagene Bein fand wieder festen Stand auf dem Boden und Dared schien regelrecht in seinem Stuhl zu wachsen während er sich zu seinem Bruder hinüber wandte. "... so tue ich wenigstens etwas um die Interessen unserer Hauses zu verteidigen. Ich bin kein Zauderer und Feigling, der sich lieber herum schubsen lässt anstatt offen zu fordern, was ihm zusteht. Wir sind ein großes Haus! Wir herrschen über diese verdammte Provinz. Woher sollte Oswin Helfort oder sonst irgendjemand das Recht nehmen, uns zu verbieten auf unserem Grund zu tun, was wir wollen? Wenn dieses Lager erst einmal Gold nach Merrisholt schickt wirst du schon sehen, was hier Schwachsinn ist. Vater wusste sehr gut, warum er mich hier hin geschickt hat..."

Damit du nicht sein ganzes Geld für Huren verschleuderst, dachte sich Lucretia. Oder vielleicht in der Hoffnung, dass ein unglücklicher Pfeil der Helforts dich im Fluss verschwinden lässt.
Gut, letzteres war eher unwahrscheinlich. Dared mochte ein aufgeblasener Narr sein, aber selbst der Patrizier würde kaum sein eigenes Kind zum Sterben schicken. Zumindest nicht, wenn er dadurch einen Krieg riskierte, das war nicht gut fürs Geschäft. Wahrscheinlich hatte er einfach gehofft, dass Dared seine Nase diesmal zu weit aus dem Fenster streckte, und etwas drauf bekam. Das würde ihn zähmen und gefügiger machen. Und wenn die Helforts ihm ein bisschen Verstand eingeprügelt hatten, konnte man vielleicht etwas mit ihm anfangen. Eine Hochzeit wäre ihm dann um einiges lieber als ein Schwert gewesen.
Doch leider hatte der jüngste Konflikt ihre Nachbarn zu sehr abgelenkt, um sich das aufmüpfige Kind das Patriziers zur Brust zu nehmen. So saß er hier gelangweilt herum, nützte niemandem etwas und sah den Nutzen der Situation nicht. So fiel mal wieder ihr die Aufgabe zu, die Männer daran zu erinnern worauf es ankam.
"Gemach, meine Herren", sprach Lucretia und hob beschwichtigend die Arme. "Warum uns über kleinliche Details streiten. Konzentrieren wir uns doch aufs wesentliche. Letztlich läuft es für uns doch nur auf eine Frage hinaus." Sie stellte vorsichtig ihren Kelch ab und warf ihren Vettern ein vielsagendes Lächeln zu. "Welchen Nutzen wir daraus ziehen können. Letzten Endes sind wir die Kinder des Hauses Melior. also sollten wir uns an die Worte des Patriziers erinnern." Sie hob den Finger. "Keine Gelegenheit ungenutzt lassen. Wenn wir herausfinden wer die Entführer sind, kann es uns nur zum Vorteil gereichen. Sollten wir Oswin Helfort helfen, seine Tochter wieder zu finden, wird er nicht anders können, als sich mit uns zu arrangieren, egal was sein Stolz ihm sagt."

Das Mädchen schien erkannt zu haben, dass Ircia verstimmt war, also sprachen sie und ihre Kameradin kein Wort mehr, während sie der Fürstentochter halfen, den Schmutz von ihrem Körper zu waschen. Als sie damit fertig waren, stellten sie ihr ein Nachthemd zur Verfügung und machten das Bett zurecht. Bevor sie sich zur Tür wandten, stellte eines der Mädchen ein Glöckchen auf den Nachttisch.
"Klingelt, wenn Ihr etwas benötigt", bat sie Ircia mit schüchternem Lächeln. "Wenn Ihr einen Wunsch habt, dann werden wir unser bestes tun, um ihn Euch zu erfüllen."

"Ihr beiden habt da nur einen ganz wesentlichen Punkt außer Acht gelassen...", gab Dared zu bedenken und lehnte sich wieder in seinem Stuhl zurück, legte mit einem Gefühl der triumphierenden Überlegenheit die Fingerspitzen zusammen, "Wir haben nicht die geringste Ahnung, wie wir an diese Entführer heran kommen sollten. Oswin Helfort wird inzwischen die halbe Nordermark in Bewegung gesetzt haben um seine Tochter zu finden. Und welche Mittel stehen uns zur Verfügung um an der Suche teilzunehmen? Soll ich meine Kompanie über den Skallien senden, damit sie Helforts Land durchkämmen? Wenn wir unter Waffen dort rüber reiten, dann ist das ein Affront. Eine Kriegserklärung, beinahe schon. Alles, was wir tun können ist, Patroullien unser Ufer hinauf und hinab zu schicken und zu hoffen, dass diese Schurken dämlich genug sind, sich nach Ornenberg absetzen zu wollen. Aber wie wahrscheinlich ist das schon?"

"Wir müssen ja nicht als Armee da rüber sondern eher als Suchtrupp. Oswin weiss, dass ich im Moment hier oben nach seiner Tochter suche. Allerdings will ich nicht zu lange hier verweilen. Allerdings ist es Tatsache, dass dieses Lager hier wohl die grössere Provokation ist, als wenn wir hier aushelfen."
Lothar seufzte.
"Aber du bist ja einmal mehr einfach nicht zur Vernunft zu bringen."


Ircia nickte bloss. Als sie dann endlich alleine war, trat sie ans Fenster und schaute hinaus. Es war tiefdunkle Nacht und eigentlich war sie todmüde. Aber das hier war alles so ... unwirklich.
Man hatte sie quer durch das Reich verschleppt und nun war sie hier und wusste nicht, was jetzt mit ihr geschehen sollte.
Diese Gastfreundschaft war der reinste Hohn. Sie fühlte sich verspottet. Und sie wollte nur nach Hause...
Langsam ging sie zum Bett und setzte sich darauf. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie wollte nur hier weg!

"Wenn du nur hier bist um mich zu beleidigen, dann kannst du dich morgen gleich wieder auf dein Pferd schwingen und weiter reisen, Lothar", antwortete Dared kühl und alles schelmisch-überhebliche war in diesem Moment von ihm abgefallen. Das hier war sein verdammtes Lager! Hier gab er den Ton an! Und hier erwartete er zumindest ein wenig Respekt. Dass er den von Lucretia nicht zu erwarten hatte war klar: die Frau zog schlichtweg Genugtuung daraus, ihm Contra zu geben und ihm das Leben schwer zu machen. Aber von Lothar hatte er ein wenig mehr Vernunft erwartet. Überhaupt: es war doch ein starkes Stück, dass dieser Mann ihm Unvernunft vorwarf, weil er von einem völlig aussichtslosen Unterfangen abriet und Provokation, wo er selbst doch gleichzeitig plante, einen tatsächlichen Affront zu begehen. Vermutlich, so sinnierte Dared, war es einfach der Neid auf seinen Erfolg, der Lothar dazu trieb, derart giftige Reden zu schwingen.

"Bruderherz, nichts liegt mir ferner, als dich tatsächlich zu beleidigen. Ich finde diese Sache hier nur reichlich unüberlegt und verstehe nicht, warum Vater dem hier zugestimmt hat, bevor man nach einer friedlichen Lösung gesucht hat. Wenn die Helforts das hier entdecken, dann ist es aus und vorbei mit jeglichem Frieden. Und wenn ich dabei noch in ihrem Land bin, dann werden sie garantiert nicht zögern, mich als Geisel zu nehmen.
Entweder, ich gehe jetzt also zurück und helfe dem Fürsten wie versprochen bei der Suche - und riskiere dabei gewissermassen mein Leben. Oder ich verkrieche mich wieder in mein eigenes Land, was den hohen Herren äusserst misstrauisch machen könnte."
Er griff nach seinem Wein.
"Und dann ist da immer noch der Schosshund von Vater, der sich irgendwo rumtreibt. Ich hoffe nur, der stellt keinen Blödsinn an."

Ah, von dort wehte also der Wind. Nicht Neid war es, der Lothar so barsch werden ließ, sondern Furcht. Furcht um sein eigenes Wohlergehen. Bah! Was für ein Feigling er doch war. Was für ein zögerlicher Leisetreter, Haderer, Angsthase! Und der sollte einmal Fürst sein? Konnte es denn wirklich sein, dass der alte Patrizier all seinen Stahl allein an den Zweitgeborenen vererbt hatte und nichts davon in seinem Thronfolger steckte? Tragisch...
"Du überschätzt die Bedeutung meiner Unternehmung hier ganz gewaltig", widersprach Dared dem Bruder, "Oswin Helfort wäre ein Narr, deswegen einen Krieg vom Zaun zu brechen. Der Fluss gehört nicht ihm allein. Sicher, bisher war es nur die Nordermark, die ihn genutzt hat, aber das nimmt uns nicht das Recht, das ebenso zu tun. Unsere Beziehungen zu den Helforts werden darunter leiden, wenn sie es heraus finden, ohne Zweifel. Aber die waren noch nie sonderlich gut. Und hier geht es um Gold. Gold ist es, das unser Haus groß gemacht hat und nur Gold kann unsere Größe bewahren. Das hier ist wichtiger als irgendwelche diplomatischen Querelen. Vater hat das erkannt. Und du solltest es auch. Um deine Sicherheit musst du dir keine Sorgen machen. Sollten die Helforts dich deswegen wirklich festsetzen, dann wäre das eine Kriegserklärung. Und wenn sie als die Aggressoren auftreten, dann wird der Rest des Königreichs uns beistehen und wir zerschlagen sie. Ein für alle mal!"

Innerlich gab Lucretia ein leidiges Seufzen von sich. Männer konnten so furchtbar kompliziert sein. Es würde ihr immer ein Rätsel bleiben, wie zwei Brüder, dem selben Elternhaus entspringend, so grundverschieden sein konnten.
"Immer langsam mit den jungen Pferden", mischte sie sich in das Gespräch ein. "Das Spiel hat gerade erste begonnen und unser Blatt ist vielversprechend." Sie nahm einen von Dareds Kartenstapeln und begann, die Karten zu mischen. "Aber auch riskant. Es steht viel auf dem Spiel. Ein falscher Zug und wir könnten alles verlieren. Man mag versucht sein auf Sicherheit zu spielen." Sie nahm die oberste Karte vom Stapel, betrachtete sie nachdenklich und legte sie auf den Tisch. Ein Bauer. "Wir könnten uns für eine der Optionen entscheiden. Uns auf den Vogel in unserer Hand konzentrieren. So würden die meisten Fürsten denken. Keine Risiken eingehen. An dem festhalten was man hat. Doch wer gewinnen will, der darf nicht zaudern."
Lucretia nahm eine weitere Karte vom Stapel, einen Fürsten, und legte sie neben den Bauern. Dann sah sie zu Lothar.
"Gewiss, die Chance des Verlusts besteht. Doch wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Die Bereitschaft Risiken einzugehen ist es, die unser Haus groß gemacht hat. Wer wären wir, dass wir davon abweichen. Dennoch", nun sah sie zu Dared und legte einen Spion auf den Tisch, "sollten wir Vorsicht walten lassen. Ein kühler Kopf ist das Heim eines scharfen Verstandes. Wenn wir aus diesem Spiel als Sieger hervorgehen möchten, sollten wir flexibel in unserem Denken bleiben. Keine Chance sollte uns entgleiten."
Sie legte den Kartenstapel ab, lehnte sich zurück und sah die Männer mit ernstem Blick an.
"Anstatt uns zu streiten, wäre es besser zu überlegen, wie wir gemeinsam den Gewinn maximieren können. Wir gehen einige Risiken ein, egal welchen Weg wir einschlagen. Aber wenn wir unsere Karten richtig ausspielen, könnten wir alles haben. Profit aus dem Fluss", sie nickte Dared zu, "und unseren Frieden mit den Helforts", ihr Blick schweifte zu Lothar. "Wenn wir ihnen helfen, können wir damit rechnen, dass sie Zugeständnisse an uns machen. Freieren Handel, ein Aufheben der Zölle...eine gemeinsame Nutzung des Flusses. Letztlich werden auch sie davon profitieren. Sobald sie in unserer Schuld stehen, werden sie kaum noch einen Grund haben, sich über unsere Aktionen hier zu beschweren. Im Gegenteil, nach den Unruhen würde ihnen ein friedliches Zusammenleben mit festen Handelsbeziehungen gerade recht kommen."

Für einen neutralen Beobachter mussten Lucretias Ausführungen absolut logisch und nachvollziehbar klingen und selbst Dared war geneigt, ihr bei allem, was sie zu sagen hatte, beizupflichten. Wäre da nur nicht dieser eine kleine, aber entscheidende Kritikpunkt gewesen: die Chancen, von denen Lothar sprache, waren schlichtweg nicht real.
"Ich will mich keinen Optionen verschließen und die Götter wissen, dass ich kein Mann bin, der Risiken aus dem Weg geht...", gestand er zu, "... aber ich sehe nach wie vor nicht, wie wir den Helforts helfen könnten. Uns an der Suche beteiligen ist sinnlos. Oswin Helfort hat auch ohne uns genug Männer und möchte wetten, dass er jeden einzelnen in Bewegung gesetzt hat. Wir können ihm nichts anbieten, was er nicht selbst schon besitzt. Und aufs Geratewohl an der Suche teilnehmen, das wird uns kaum zum Ziel bringen. Wir bräuchten schon ungemein viel Glück, um die zu sein, die die Prinzessin finden. Es sei denn natürlich..." Und er wandte den Blick von Lucretia ab und fokussierte stattdessen seinen Bruder. "... du hast Informationen über diesen Vorfall, die du uns noch vorenthalten hast."

"Tut mir leid, da muss ich leider passen", meinte der grosse Bruder dazu. "Ich weiss lediglich wo die Tat begangen wurde, doch das weiss Oswin genauso gut wie ich."
Er seufzte.
"Ich glaube, einfache Bauern würden es wohl kaum wagen, Hand an die Prinzessin zu legen. Für mich riecht das noch immer nach einem organisierten Verbrechen. Wir sollten strategisch vorgehen und dabei niemanden ausser Acht lassen, der hoch genug gestellt ist, so etwas zu organisieren und damit etwas erreichen könnte."

Na großartig! Da war sie also, die Bestätigung dessen, was Dared ohnehin bereits vermutet hatte: das Ganze war nichts weiter als eine von Lothars fixen Ideen, hatte nicht die geringste Grundlage und war somit von vornherein zum Scheitern verurteilt. Genervt verdrehte Dared die Augen, beließ es aber ansonsten dabei. Sollten die anderen beiden doch ausdiskutieren, was getan werden sollte. Er war ohnehin dagegen. Und hören würden sie auf ihn sowieso nicht. Aber wenn Lothar nun allen Ernstes in den gehobenen Kreisen seine Nachforschungen anstellen wollte, dann würde er wohl oder übel intervenieren müssen. Sie würden doch nur jeden Edelmann auf Dauer verprellen, wenn er sich mit derartigen Anschuldigungen konfrontiert sah...

Auch Lucretia machte erst einmal keinen allzu überzeugten Eindruck. Nach einem allzu ausgefeilten Plan hörte sich das noch nicht an.
"Dann überlegen wir mal, wer könnte Oswin Helfort schaden wollen", begann sie. "Wir wissen schon einmal, dass wir nichts damit zu tun haben. Die Nordermark grenzt im Königreich nur an eine Provinz und das ist Ornenberg. Entführung durch die Nachbarn wird somit schonmal unwahrscheinlich."
Sie faltete die Hände ineinander.
"Allzu weit können die Entführer noch nicht sein, also wird die Prinzessin noch in der Nordermark sein. Wahrscheinlich eher abseits der Unruhen. Bleiben die Regionen im Osten."
Ihr Gesicht erhellte sich.
"Aber warum sollten wir es uns so schwer machen? Zugegebenermaßen, die Zölle auf Wareneinfuhr nach Ornenberg macht uns Handelsbeziehungen in die Nordermark nicht leicht. Aber das funktioniert auch anders herum, es gibt sicher einige Händler in der Nordermark, die sich genauso wenig darüber freuen."
Sie lehnte sich vor.
"Erkunden wir uns doch einfach mal bei den Handelshäusern und Schiffern, die in der Nordermark ein- und ausgehen. Wenn wir diskret vorgehen, können wir vielleicht rausfinden, wer Interesse hätte, den Helforts zu schaden. Und ein paar ungewöhnliche Ereignisse würden ihnen sicher auffallen."

"Hmmm ..."
Lothar seufzte leise auf.
"nun, mal sehen. Ich werde erst einmal zurück reisen, wo ich hergekommen bin und von dort aus Kontakt mit Vater aufnehmen. Letztendlich sollten wir auch nicht einfach über seinen Kopf weg entscheiden. Ihr schaut zu, dass ihr hier keine unnötigen Schwierigkeiten kriegt."
Er massierte sich die Schläfen.
"Dared, ich erwarte nicht von dir, dass du deine Pläne abbrichst. Du würdest ja sowieso nicht auf mich hören", fuhr er nun mit einem leichten Schmunzeln fort. Er wollte die aufgekommene dicke Luft ein wenig auflockern.
"Ich erwarte nur, dass du deine Pläne gegebenenfalls ein wenig anpasst. Die Situation in der Nordermark kann auch für uns bedrohlich sein."

Lucretia sah nachdenklich zwischen ihren Vettern hin und her. Einen Moment überlegte sie, mit Lothar mit zu gehen, entschied sich jedoch dagegen. Wenn Lothar an seinen bisherigen Plänen festhalten wollte, würde sie ihm dort keine große Hilfe sein. Und jemand musste auf Dared aufpassen. Wahrscheinlich würden diese Neuigkeiten seine Laune nachhaltig beeinträchtigen und nicht zum besseren. Jemand musste ein Auge auf ihn werfen.
"Wenn du möchtest, kann ich von hier einen Brief an Onkel Lucius aufsetzen", bot sie sich an. "Von hier aus kommt eine Botschaft sicher problemloser nach Merrisholt als von der Nordermark."